Störfall – Nachrichten
eines Tages
Der 1987 erschienene Roman “Störfall-Nachrichten eines Tages” von
Christa Wolf ist nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl verfasst worden und
berichtet von 2 Störfällen. Zum einen wird die Explosion im Kernreaktor thematisert und zum anderen die Gehirnoperation des
Bruders der Erzählerin.
Bezüglich meines
Themas möchte ich mich auf die Analyse der intertextuell intergrierten Texte konzentrieren. Die Autorin hat reichlich auf bereits
vorhandene Werke Bezug genommen, die ich
wie folgt auflisten möchte:
1.
The Dragon
of Eden. Speculations on the Evolution of Human Intelligence - Carl Sagan
2.
Das
sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression – Konrad Lorenz
3.
Die Vögel
und der Test – Stephan Hermlin (Seite 11)
4.
Die Forelle
– Gedicht von Christian Friedrich Daniel Schubart, als Lied komponiert von
Franz Schubert (Seite 11)
5.
O Himmel,
strahlender Azur – Bertholt Brecht (Seite 15)
6.
So
scheiden wir mit Sang und Klang – Hoffmann von Fallersleben (Seite 15)
7.
Maria
Stuart – Friedrich Schiller (Seite 16)
8.
Die Milch
– Stephan Hermlin (Seite 23)
9.
Das Gedicht
“1940” –
Bertholt Brecht (Seite 36)
10.
Mailed –
Johann Wolfgang von Goethe (Seite 47)
11.
Der Mensch
erscheint im Holozän – Max Frisch (Seite 56)
12.
Predigt
“Himmelfahrtstag” – Martin Luther (Seite 61)
13.
Abel und
Kain – Bibel (Seite 65)
14.
Erinnerungen
an die Maria A. – Bertholt Brecht (Seite 65)
15.
Zeitschrift
mit dem Artikel “Wissenschaft von Star Wars” (Seite 75)
16.
Faust –
Johann Wolfgang von Goethe (Seite 76ff)
17.
Brüderchen
und Schwesterchen – Gebrüder Grimm (Seite 86)
18.
Hindsight
– Charlotte Wolff (Seite 100)
19.
Goldene
Abendsonne (Lied) – Anna Barbara Urner (Seite 104)
20.
Gyges und
sein Ring – Hebbel (Seite 120)
21.
Herz der
Finsternis – Joseph Conrad (Seite 127)
22.
Die drei
Männlein im Walde – Gebrüder Grimm (Seite 130)
Zu Beginn des Romans wird der Leser mit den
Zitaten von Carl Sagan und Konrad Lorenz
konfrontiert.
Ich möchte zunächst
auf das Zitat von Carl Sagan
“Die Verbindung
zwischen Töten und Erfinden hat uns nie verlassen. Beide entstammen dem Ackerbau
und der Zivilisation.”, aus seinem Werk “The
Dragon of Eden. Seculations on the Evolutoin of Human Intelligence”
eingehen, das wir
sowohl auf der ersten Seite als auch auf Seite 74 wiederfinden können,
“Die Verbindung
zwischen Töten und Erfinden (….) . Kain, der Ackerbauer und Erfinder? Der
Gründer der Zivilisation? Es sei schwer, die Hypothese zu widerlegen, dass der
Mensch selbst, durch Kampf seinesgleichen, durch Ausrottung (…). So wurde der
Mensch sich selbst zum Feind?” .
Wie wir aus diesem Zitat entnehmen können, möchte die
Erzählerin auf die Vor- und Nachteile von technischen Erfindungen aufmerksam
machen.
Sie setzt die Aussage
Carl Sagans mit der biblischen Geschichte von “Kain und Abel” in Verbindung und
konzentriert sich im Laufe des Paragraphs auf die Nutzung und Zerstörung der
von Menschen zur “Verbesserung” des Lebens entwickelten Technik, wobei sie Kain
als Ackerbauer und Erfinder, sowie Gründer der Zivilisation darstellt. Dennoch
ist er der Mörder seines eigenen Bruders. Auch der Kernreaktor sollte den
Menschen Nutzen bringen, jedoch hat es die Lebensqualität der Menschen zerstört.
Carl Sagan kritisiert
mit dieser Aussage die Kernenergie. Christa Wolf, die ebenfalls nicht positiv
auf die Kernenergie eingestellt ist, benutzt dieses Zitat als Brücke, um ihre Meinung widerzuspiegeln.
Desweiteren lesen wir,
wie bereits erwähnt, den folgenden Ausschnitt aus Konrad Lorenz’ Werk “ Das
sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression”
“Das langgesuchte
Zwischenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen sind wir”.
Hiermit möchte die
Verfasserin den Leser dazu anregen, Verantwortung für sein Handeln zu
übernehmen. Diese Aussage unterstreicht die Verbindung von Fortschritt und
Zerstörung miteinander, deren Kreis nur durch die Einsicht der Verantwortung
durchbrochen werden kann.
Schon bevor der
Rezipient sich dem Roman wenden kann, wird er angeregt, sich Gedanken über die
Entwicklung der Technik zu machen. Die Aufmerksamkeit wird darauf gelenkt, dass
der positive Gebrauch die Welt verbessern kann, das Gegenteil aber zur
Zerstörung unseres Planeten führt.
Mit dem Sonett “Die
Vögel und der Test” von Stephan Hermlin
Die Vögel und der Test
Von den Savannen übers
Tropenmeer
Trieb sie des Leibes
Notdurft mit den Winden,
Wie taub und blind,
von weit- und altersher,
Um Nahrung und um ein Geäst zu finden.
Nicht Donner hielt sie
auf, Taifun nicht, auch
Kein Netz, wenn sie
was rief zu grossen Flügen,
Strebend nach gleichem
Ziel, ein schreiender Rauch,
Auf gleicher Bahn und
stets in gleichen Zügen.
Die nicht vor Wasser
zagten noch Gewittern
Sahn eines Tages im
hohen Mittagslicht
Ein höheres Licht das
schreckliche Gesicht
Zwang sie von nun an
ihren Flug zu ändern.
Da suchten sie nach
neuen sanfteren Ländern.
Lasst diese Änderung
euer Herz erschüttern…
und dem folgenden
Zitat
“Nicht unvorbereitet, doch ahnungslos werden wir gewesen sein, ehe
wir die Nachricht empfingen. War uns nicht, als würden wir sie wiedererkennen?
Ja, habe ich eine Person in mir denken hören, warum immer nur die japanischen
Fischer. Warum nich auch einmal wir. Die
Vögel und der Test” (Seite 11)
wird der Leser an den Wasserstoffbombentest
“Bravo” erinnert, der 1954 von der US-Regierung im Bikini-Atoll, einem Gewässer
im Pazifischen Ozean, vollzogen wurde.
Nach Berichten wurde
der Test trotz der Änderung des Windes, wodurch die dem Versuchsgebiet
naheliegenden Inseln und die Besatzung eines japanischen Fischerboots namens
“Funkuryu Maru” (Glücksdrache) bedroht waren, nicht verschoben. Durch diesen
Versuch waren sowohl die Einwohner als auch die Fischer auf dem Boot von dem
darauf folgenden Fallout, dem radioaktiven Niederschlag, betroffen. Nachher litten
sie schwer an den Symptomen der “Strahlenkrankheit”.
Folglich kann man
festhalten, dass jegliche Verbindung mit der Atomenergie, sei es die zivile
Nutzung in Kernkraftwerken oder die militärische, die Auswirkung einer
bewussten Explosion bzw. eines Unfalls, die Bedrohung der menschlichen Existenz und der
Natur bedeuten.
Der zitierte Vers “O
Milch unfrommer Denkart, bittrer Trank” aus dem Sonett “Die Milch”, ebenfalls von Stephan Hermlin, unterstreicht noch einmal die katastrophalen Folgen
des Reaktorunfalls.
“-obwohl ich
andererseits nicht dringend habe wissen wollen, wie die überaus saftige grüne
Wiese vor dem Haus sich auf der Skala eines Geigerzählers heute angenommen hätte”
(Seite 22),
“Blattgemüse und
Spinat kriege man sowieso nicht zu kaufen, und frische Milch gebe sie den
Kindern nicht mehr, hat die jüngere Tochter gesagt (O Milch unfrommer Denkart, bittrer Trank…)” (Seite 23).
Um diese Zitate erläutern
zu können, möchte ich Ihnen vorerst das Sonett vorstellen:
Die Milch
Ein seltsames Gras wächst auf im grünen Feld.
Ein neuer Regen hat es
da benetzt.
Es weiden Herden
unterm Wolkenzelt.
Was ist euch, dass ihr
euch darob entsetzt?
Hier waechst die Milch
heran, die Kinder naehrt.
Sie sind kaum da. Doch
ihre Zeit ist um.
Einst mütterliche
Milch, die sie versehrt,
O du, tückisch
durchblüht vom Strontium…
Wer mit den Seuchen da
zu Rate saß,
Ehe mit seiner
Raubwelt er versank,
Plante Misswuchs und
Tod in einem Glas
Voll weisser Milch.
Die macht Gesunde krank.
Wer hat in Gift
gekehrt dich? Wer? Und was?
O Milch unfrommer
Denkart, bittrer Trank…
Die Erzählerin, die
die Nachrichten aus dem Radio verfolgt, hört die Warnung “Nichts Grünes. Keine
Frischmilch für Kinder”. Durch den Reaktorunfall sind die für den menschlichen
Körper wichtigen Vitamine vergiftet worden.
Das Ausmaß der
vergifteten Milch wird mit dem im Sonett erwähntem chemischen Element
“Strontium” hervorgehoben.
Wissenschaftler haben festgestellt, dass das Strontium 90, das dem Calcium ähnelt,
über die aus radioaktiven Weiden entstammende Milch in den menschlischen
Organismus eintritt und Leukämie hervorruft.
In Verbindung mit der
Gehirnoperation ihres Bruder erwähnt die Erzählerin den Geigerzähler, ein Gerät,
das Ausschluss über eine nukleare Strahlenbelastung sowie deren Ausmass angibt.
“Woher soll ich
wissen, mit welchen Sinn oder mit welchen Sinnen du vielleicht alles, was ich
mir noch so verstohlen vorstelle, in dich aufnimmst. Sehen hören riechen
schmecken tasten – das alles soll sein? (…) Wenn auch das Verlangen nach einem
eingearbeiteten Geigerzaehler eher anmassend klingen mag, sogar humoristisch.
Wer hätte vor diesen Millionen von Jahren voraussehen sollen, dass gerade er
einmal unsere Überlebenschancen als Gattung verbessern würde –“(Seite 22)
An dieser Stelle
spricht die Erzaählerin die Operation an und verdeutlicht, dass die Sinne des
Bruders betroffen sind, implizit macht sie jedoch auf das Strontium aufmerksam,
das in Staubpartikel gebunden durch die Luft fliegt und durch das Einatmen
“aufgenommen” wird und mit einem herkömmlichen Geigerzähler nicht nachgewiesen
werden kann.
Desweiteren bezieht
sich die Autorin Christra Wolf in
Verbindung mit dem Kernreaktorunfall auf das Vorhaben der Wissenschaftler, die
sie mit dem Protagonisten der Tragödie “Faust” von Johann Wolfgang von Goethe
vergleicht.
Die Erzählerin “greift
nach einer Zeitschrift”, dessen Name
nicht erwähnt wird. Die Artikelüberschrift lautet “Die Wissenschaftler von Star
Wars”. Der Bericht handelt von einem “modernen Faust”, einem jungen
Wissenschaftler namens Peter Hagelstein, der auf die Erfindung eines
Röntgenglasers für wissenschaftliche Zwecke fixiert sei, um sich mit
dieser Erfindung den Nobelpreis zu holen.
In Zusammenhang hierzu erinnert sich die Erzählerin an ihren Aufenthalt in den
USA, wo sie sich den Film “Star Wars -
The Return of the Jedi” in einem Kino angeschaut hatte, bei dem sowohl
schwarze als auch weisse Zuschauer von der Vernichtung mit Strahlenwaffen
begeistert waren.
“Ich musste nur zuerst
an die junge schwarze Frau denken, …, und wie der gesamte Saal, fanatisch
Anteil nahm an den Weltraumschlachten der guten, weissen Sternenkrieger gegen
die bösen, schwarzen. (…) die junge Schwarze … mit schriller Stimme schrie:
Kill him! Kill him! (…) Die Waffen, die da benutzt wurden waren allerdings
Strahlenwaffen, und ich habe mir vorgestellt, dass der Regisseur … sich mit den
Satrwarriors in Livermore beraten hatte ….” (Seite 78)
Mit diesem Satz nimmt
sie Bezug auf die Lawrence Livermore Laboratories, die an der Planung und
Entwicklung von Kernwaffen mitwirken. Goethes’ “Faust” baut die Autorin in ihr Werk mit ein, indem
sie die Wissenschaflter mit Dr. Faustus vergleicht. Die Wissenschaftler haben
ihre Seele der Forschung gewidmet und Dr. Faustus hat seine Seele dem Teufel
Mephistopheles versprochen, um seine Gier nach Wissen befriedigen zu können.
“Ein Faust, der nicht Wissen
, sondern Ruhm
gewinnen will.” (Seite 79)
Die Erzählerin geht
auf Seite 112 noch einmal auf den jungen Wissenschaftler Peter Hagelstein ein.
Sie berichtet über ihre Recherchen, wonach sie erfährt, dass er Livermore
verlassen habe. Sie erwähnt, dass sie “erneut über die Schicksale und
Entscheidungen des modernen Faust nachdenken” müsse. Die Hoffnung, dass die
Forscher in Zukunft ihre unnötigen, zerstörenden Erfindungen noch einmal
durchdenken oder diese sogar überhaupt nicht durchführen, bleibt demnach
bestehen.
Weiterhin geht die
Erzählerin auf die “Gier” auf Seite 129
ein, wo sie den Roman “Herz der Finsternis” von Joseph Conrad anfängt zu lesen.
Es ist eine Erzählung über den Seefahrer Marlow, der in der
Kolonialgesellschaft die Umstände beobachtet und beschreibt. In Verbindung mit
den erwähnten Wissenschaftlern, die neugierig und ohne Rücksicht auf die Welt
bzw. Umwelt Forschungen vornehmen, beruht die Gier der Besetzer der
Kolonialgebiete auf Ruhm und Geld. “So redet dieser Mensch zu mir. Wörter wie
“Hass” und “Liebe” würde ich bei ihm kaum finden, so scheu. “Gier” gab es häufig.
Gier, Gier,Gier”.
Zuletzt möchte ich auf
das Märchen “Die drei Männlein im Walde” von den Gebrüdern Grimm eingehen, aus
dem die Erzählerin wie folgt zitiert:
“Da hat mir eine
Stimme bis in den Schlaf hinein die Stelle aus dem Märchen vorgelesen, in dem
die Königin in eine Ente verwandelt ist. In der Nacht aber sah der Küchenjunge,
wie eine Ente durch die Gosse geschwommen kam, die sprach: Königssohn, was machst du, schläfst du oder wachst du” (Seite 130).
Dieses Märchen handelt
von einem Mädchen, das von der Stiefmutter im Winter in den Wald geschickt
wird, um Erdbeeren zu sammeln. Das Mädchen trifft dort auf drei Männlein, mit
denen sie ihr Brot teilt und auf ihr Verlangen den Hof fegt. Zur Belohnung sprechen
die drei Männlein jeweils einen Wunsch aus. Das Mädchen heiratet daraufhin
einen König. Die böse Stiefmutter und ihre Tochter nisten sich bei der guten
Königin ein und werfen diese nach der Geburt des Kindes in den Fluss. Sie
kommt, verwandelt in eine Ente, an drei Nächten an den Königshof und spricht
den oben erwähnten Spruch auf. Am letzten Tag soll der König sein Schwert
dreimal über sie schwingen und somit ist der Fluch vorbei. Die böse Stiefmutter
und –schwester sprechen bei der Taufe unwissentlich ihr eigenes Urteil aus und
werden in einem Fass in den Fluss geworfen.
Die Erzählerin gibt
ihre Hoffnung nicht auf, dass die Forscher, die die Mitschuld an dem
Reaktorunfall tragen, ihrer Tat entsprechend verantwortlich gemacht werden. Auch
sind genau diese Wissenschaftler und ihre Familien von dem Unfall betroffen.
Sie haben somit aufgrund der Erfindung der Kernenergie ihr eigenes Urteil
ausgesprochen.
Parallel zu der
Reaktorkatastrophe schildert die Erzählerin über die Operation ihres Bruders,
bei dem sie auf die friedliche Nutzung der Technik und der Wissenschaft
aufmerksam macht.
Zu der Beantwortung der
Frage, warum Intertextualität benutzt wird, möchte ich mich wie folgt äussern:
Die Autorin Christa
Wolf hat sich an den Merkmalen der postmodernen Literatur bedient und ist in
bereits vorhandene Werke intertextuell eingegangen. Sie ist hinter diese Text
zurückgetreten und hat die integrierten Romane, Dichtungen etc. von
verschiedenen Autoren und Dichtern an ihrer Stelle sprechen lassen. Die Erzählung
erschien in der DDR, in einem Staat ohne Meinungsfreiheit. Die Verfasserin
schützt sich, indem sie ihre Meinung nicht frei ausspricht. Die Werke, auf die
sie sich bezieht, eröffnen dem Rezipienten des Romans einen tiefen Horizont und
ermöglichen ihm, den Roman besser zu verstehen.
Die im vorliegenden
Buch erzählende Figur ist Schriftstellerin und beruft sich auf ihr
interlektuelles Wissen und übermittelt eine umfangreiche Perspektive, womit der
Leser dieses Thema deuten kann. Weiterhin werden die Folgen der Atomenergie
hervorgehoben.
Serpil Tarhan
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